Universität Koblenz erforscht kooperativ, wie ältere Menschen Stürze vermeiden können

Forscher der Universität Koblenz simulieren in einem neu eröffneten Biomechanik-Labor Stolperereignisse, die individuell auf die Gangart und das Alter der teilnehmenden Person eingestellt sind (Symbolbild). Bild: Canva
Forscher der Universität Koblenz simulieren in einem neu eröffneten Biomechanik-Labor Stolperereignisse, die individuell auf die Gangart und das Alter der teilnehmenden Person eingestellt sind (Symbolbild). Bild: Canva
Stolpern mit Absicht: In einem neu eröffneten Biomechanik-Labor forscht die Arbeitsgruppe „Trainings- und Bewegungswissenschaft“ am Institut für Sportwissenschaft an innovativen Methoden, um das Sturzrisiko vor allem älterer Menschen zu verringern. Die Forschergruppe der Universität arbeitet dabei eng mit dem Fachbereich Mathematik, Informatik, Technik an der Hochschule Koblenz in Remagen zusammen.

Die Stolper-Sturzprophylaxe und die neuromuskuläre Kontrolle der Bewegung sowie die Adaptationsfähigkeit von Muskeln und Sehnen über die Lebensspanne stehen im Forschungsfokus der Arbeitsgruppe „Trainings- und Bewegungswissenschaft“ am Institut für Sportwissenschaft an der Universität Koblenz. Deren Leiter, Prof. Dr. Kiros Karamanidis, ist auch Geschäftsführer des Instituts für Medizintechnik und Informationsverarbeitung Mittelrhein (MTI).

„Zusammen mit dem Fachbereich Mathematik, Informatik, Technik an der Hochschule Koblenz in Remagen simulieren wir im Biomechanik-Labor das Stolpern auf einem Laufband“, erklärt Karamanidis das Prozedere. Die Teilnehmer*innen werden dabei im kürzlich eröffneten Biomechanik-Labor in einem Sicherungssystem gehalten und gehen auf einem Laufband. Dieses Laufband produziert mehrere unvorhersehbare Stolperereignisse. Sie sind individuell auf die Gangart und das Alter der teilnehmenden Person eingestellt. Zwar kann dank des Haltesystems kein Teilnehmer stürzen. Dennoch erleben die Teilnehmer das Gefühl eines Beinahe-Sturzes und hängen dabei eventuell kurz im Haltesystem, bevor dieses bei Bedarf rechtzeitig eingreift. Ziel dieses Trainings ist es, die reaktive Balance zu verbessern und Beinahe-Stürze in einer sicheren Umgebung realitätsnah zu simulieren.

Durchschnittlich würden einige Teilnehmer*innen während der ersten drei Beinahe-Stürze hinfallen, wären sie nicht gesichert. Danach komme dies nicht mehr vor, erklärt Karamanidis. „Wir konnten nachweisen, dass durch solche Interventionen das Sturzrisiko geringer ist. Die Teilnehmer haben gelernt, die Situation zu meistern und können das Gelernte in Alltagssituationen transferieren.“ Selbst nach eineinhalb Jahren sei das Sturzrisiko 70-Jähriger, die 20 Minuten auf dem Laufband verbracht haben, reduziert, so der Wissenschaftler.

Die Arbeitsgruppe konnte nachweisen, dass nicht primär der Abbau der Muskelkraft die Ursache für Stolperanfälligkeiten alternder Menschen ist, sondern die Degeneration der neuromuskulären Kontrolle der Lokomotion bzw. die ineffektive Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen Gehirn und Muskulatur bei unerwarteten posturalen Störungen. „Die verbesserte Gangstabilität hängt eindeutig nicht von der Muskelkraft ab, da diese sich nach 20 Minuten auf dem Laufband nicht verändert“, so Karamanidis. Das Gehirn hingegen lerne, die Zusammenarbeit mit den Muskeln wieder zu optimieren – und dieser Effekt halte lange an.

Damit das Stolpergedächtnis möglichst lange gut funktioniert, kann jeder im Alltag daran arbeiten – auch wenn viele Menschen verlernt haben, mit eventuellen Stürzen umzugehen. Damit die breite Masse von dem Laufbandtraining bzw. Stolper-Training profitieren kann, entwickelt Karamanidis‘ Forschergruppe eine Manschette mit integrierter Bremse. Sie wird am Knie- oder Hüftgelenk befestigt. Bremsimpulse sorgen dafür, dass der Gang während des Laufbandtrainings gestört wird. „Sensoren in der Manschette messen den Kniewinkel und können ein individuelles Stolpern einstellen“, erläutert Karamanidis. Die Manschette könnte künftig in Physiotherapiepraxen oder Kliniken mit vorhandenen gesicherten Laufbändern zum Einsatz kommen.

International konkurrenzfähiges Labor

Im neuen Biomechanik-Labor integrieren die Wissenschaftler*innen auch in vivo Muskel-Sehnen-Messverfahren und Messinstrumente. Karamanidis verfügt über seine Firma PROTENDON über diverse Messinstrumente und Software-Tools, zum Beispiel mechatronische Systeme, um den Gang zu stören, EMG-Sensoren, Kraftsensoren oder auch Ultraschallgeräte, die er im Biomechanik-Labor in Remagen integrieren wird. Somit können die Forscher*innen in Kürze gemeinsam mit dem Equipment der Hochschule Koblenz in einem international konkurrenzfähigen Labor arbeiten. Dort sollen auch Doktorand*innen, Post Docs sowie Bachelor- und Master-Studierende der Universität und der Hochschule Koblenz Projekte gemeinsam oder auch einzeln bearbeiten und Daten generieren.

Das neue Labor soll außerdem ein essenzieller Bestandteil des MTI Mittelrhein werden, in dem sich die beteiligten Forschergruppen der Universität Koblenz, der Hochschule Koblenz und der regionalen Kliniken aus dem Bereich „Health and Medial Science“ zusammenfinden und einbringen können. Über das MTI besteht bereits eine langjährige Zusammenarbeit der Universität Koblenz mit der Hochschule Koblenz, die mit dem neuen Labor weiter gefestigt werden soll.

Geplant ist zudem, in Kooperation mit Kliniken in der Umgebung Forschungsprojekte im Bereich Klinische Biomechanik durchzuführen. Karamanidis und seine Kollegen am RheinAhr Campus Remagen, Fachbereich Mathematik, Informatik, Technik kennen einander seit über 14 Jahren (u.a. Prof. Dr. Ulrich Hartmann und Prof. Dr. Lukas Scheef) und konnten bereits einige gemeinsame Veröffentlichungen, zum Beispiel in Nature Portfolio Journals realisieren. Fast eine Million Euro an Drittmitteln konnten die Wissenschaftler*innen einwerben. Daran möchten sie gerne anknüpfen und dies fortführen.

Das Biomechanik-Labor am RheinAhr Campus Remagen wurde mit finanzieller Unterstützung des rheinland-pfälzischen Ministeriums für Wissenschaft und Gesundheit im Rahmen des HAW-direkt Programms realisiert. Es eröffnet neue Anwendungsmöglichkeiten in den Bereichen KI sowie der Prävention und Rehabilitation von muskuloskelettalen Verletzungen und Erkrankungen in Sport, Beruf und Alltag. Wichtig ist Karamanidis, dass die Forschung mechanistisch orientiert ist und dass Verletzungen und Erkrankungen evidenzbasiert begegnet werden, mit dem Ziel, Grundlagenforschung in die Anwendung zu transferieren u.a. über Kooperationen mit Kliniken, Sportverbänden und der Industrie.

Datum der Veröffentlichung
Fachlicher AnsprechpartnerProf. Dr. Kiros Karamanidis
Universität Koblenz Universitätsstraße 1 56070 Koblenz
E-Mail: karamanidis@uni-koblenz.deTel.: 0261 287 2431
PressekontaktDr. Birgit Förg
Universität Koblenz Universitätsstraße 1 56070 Koblenz
birgitfoerg@uni-koblenz.de0261 287 1766