
Multiprofessionalität in der Erwachsenen- und Weiterbildung
Im Rahmen einer der Sessions auf der Sektionstagung der Erwachsenenbildung 2024 in Essen wurde in den Diskussionen deutlich, dass Fragen, Bedarfe und auch Probleme der feld- und berufsübergreifenden Zusammenarbeit in sehr unterschiedlichen Bereichen der Erwachsenen- und Weiterbildung präsent sind. Dabei fiel mehrfach das Stichwort ‚Multiprofessionalität‘ – und wir haben im Nachgang beschlossen, diesen Impuls weiterzuverfolgen. So möchten wir (s.u.) hier mit einem Call zu einer gemeinsamen Publikation sondieren, ob die Thematik auf weitere Resonanz in der Community stößt…
Zur Idee der Publikation
Das Konzept der ‚Multiprofessionalität‘ hat in den vergangenen Jahren Einzug in zahlreiche pädagogische Handlungsfelder und Bereiche der erziehungswissenschaftlichen Forschung gehalten. Während in einigen Bereichen der Fachpraxis der Terminus „beinahe selbstverständlich gebraucht [wird] und auch Stellenangebote in der Pflege, der Sozialen Arbeit oder Kindertagesbetreuung zunehmend den Passus ‚die Zusammenarbeit erfolgt in einem multiprofessionellen Team‘ enthalten“, konstatiert Nina Weimann-Sandig jedoch „bisher lediglich verhaltene theoretische und konzeptionelle Auseinandersetzungen“ (2022, S. 1). Vorreiter der Debatten im deutschsprachigen Raum liegen in Schulpädagogik und Sozialwesen: So gehen etwa Stephan Kielblock, Martin Reinert und Johanna M. Gaiser selbstverständlich „davon aus, dass die Verbesserung der multiprofessionellen Kooperation zum Kernanliegen der Ganztagsschulentwicklung gehört“ (2020, S. 47). Hochkonjunktur attestieren auch Karsten Speck und Carmen Wulf der „Multiprofessionelle[n] Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe“ (2018, im Titel).
Ein Grund für die zunehmende Popularität der ‚Multiprofessionalität‘ kann in einer fortschreitenden Differenzierung gesellschaftlicher Problemlagen und ihrer Bearbeitung gesehen werden. Im Rahmen der damit verbundenen Spezialisierung sozialer bzw. pädagogischer Berufsbilder wird ‚Multiprofessionalität‘ oftmals als ‚neue‘ bzw. verheißungsvolle Form der Arbeitsteilung betrachtet, welche die notwendig gewordenen übergreifenden Integrationsleistungen ermöglichen soll. Auch die Erfahrungen im Rahmen der Corona-Pandemie, die Kooperationsanforderungen in besonderer Weise in den Fokus gerückt haben, werden in diesem Zusammenhang angeführt (vgl. u.a. Weimann-Sandig 2022). Kritisiert wird dabei, dass ‚Multiprofessionalität‘ oft als inhaltlich wenig konturierter ‚Container‘ erscheint (vgl. Altermann/Holmgaard 2015, S. 29), der mit einem Problemlösungsversprechen in Verbindung gebracht wird, ohne genauer zu spezifizieren, „was unter Multiprofessionalität verstanden wird, wie diese umgesetzt werden soll und welche Lösungen sie für welche Probleme bereithalten kann“ (Cloos 2017, S. 146; vgl. auch Bock-Famulla et al. 2024).
Wie ist es dabei um die Erwachsen- und Weiterbildung bestellt?
Hier scheint ‚Multiprofessionalität‘ (bislang) kaum ein Thema zu sein; jedenfalls finden entsprechende Suchanfragen in einschlägigen Literatur-Datenbanken nur wenige diesbezügliche Treffer.
Dies könnte auf den ersten Blick daran liegen, dass berufsübergreifende Zusammenarbeit in der Erwachsen- und Weiterbildung von vergleichsweise geringer Bedeutung ist, wenngleich Studien zur komparativen Berufsgruppenforschung ein anderes Bild zeichnen: Dort wird die Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen als „eine Konsequenz der funktional angelegten Arbeitsteilung im pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens“ und keineswegs als „singuläre oder fakultative Entscheidung“ markiert (Nittel/Schütz/Tippelt 2014, S. 258). Der sich abzeichnende „Trend zur Kooperation und zur interorganisationalen Zusammenarbeit im System des lebenslangen Lernens“ bewirke „eine steigende Multiprofessionalität“ in und zwischen den pädagogischen Bereichen (ebd.). Von Interesse für die Erwachsenen- und Weiterbildung ist die Frage nach ‚Multiprofessionalität‘ somit gerade im Vergleich zu anderen pädagogischen Handlungsfeldern, die im Gegensatz über ein „lizensiertes Arbeitsfeld“ verfügen, wobei „der Zugang auf bestimmte Berufsgruppen beschränkt“ ist (Grgic/Friederich 2023, S. 234).
Doch gilt dies auch jenseits der expliziten Bildungsorte insbesondere dort, wo das Lernen Erwachsener ‚beigeordnet‘ bzw. ohne professionell-erwachsenenpädagogische Anleitung oder Unterstützung stattfindet (vgl. Gieseke 2008; Bernhard et al. 2015). Lernen und Bildung Erwachsener haben ihren Platz in vielfältigen Funktionssystemen, wie Gesundheit, Wirtschaft, Politik, Kultur, Medien, Sozialstaat, Religion oder Wissenschaft (vgl. u.a. Nittel/Dellori 2014). So ist multiprofessionelle Zusammenarbeit etwa im Kontext Älterer relevant, wenn in sozialräumlicher Perspektive nach Lernen an alltäglichen Lebensorten und einer möglichen pädagogischen Begleitung gefragt wird (vgl. Kulmus, i.E.); weitere Beispiele stellen das Lernen unter der Bedingung von Demenz (vgl. Berner 2024) oder bei der Aufarbeitung von Unrechtserfahrungen (vgl. Hoffmann 2024) dar.
So mag es am ‚Wording‘ liegen... Vielleicht hat nur der Begriff der ‚Multiprofessionalität‘ selbst noch keinen breiteren Eingang in die Disziplin gefunden? Eventuell bedienen sich Erwachsenen- und Weiterbildung anderer Termini? ‚Kooperieren‘ etwa lässt sich durchaus „als elementare Praktik in der Erwachsenen- und Weiterbildung begreifen“ (Alke 2021, S. 12); Themen der ‚Zusammenarbeit‘ bzw. des ‚Netzwerkens‘ sind überaus präsent (vgl. u.a. Jütte 2002; Feld 2011; Dollhausen/Mickler 2012; Alke/Jütte 2018; Jenner 2018; Kuhn/Hahnrath/Herbrechter 2020; Tippelt 2021). Allerdings wird hier selten eine explizite Verbindung zwischen ‚Professionalität‘ und ‚Zusammenarbeit‘ in Konstellationen mehrerer Berufsgruppen hergestellt.
Zu den Fragen
Vor diesem Hintergrund adressiert der geplante Sammelband diverse Fragen auf Makro-, Meso- und Mikroebne und lädt dazu ein, sich dem Thema aus unterschiedlichen Theorieperspektiven und mit Blick auf unterschiedliche Handlungsfelder des Lernens Erwachsener zu nähern:
- Wo liegen mögliche theoretische Grundlagen einer ‚Multiprofessionalität‘ in der Erwachsenen- und Weiterbildung? Gibt es adäquate Schnittstellen zwischen Professions- bzw. Professionalisierungsdiskurs und Kooperations- bzw. Netzwerkforschung?
- Was ist mit ‚Multiprofessionalität‘ in der Erwachsenenbildung gemeint, wenn damit nicht eine Addition von Professionalitäten verstanden wird, die nicht tatsächlich von einem fachlichen Auftrag bzw. Mandat abgeleitet wird, sondern ein organisatorisches Ergebnis geringer Ressourcen und hoher Freiheitsgrade in der Ausgestaltung ist?
- Wie wurde ‚Multiprofessionalität‘ – ggf. avant la lettre – in der Erwachsenen- und Weiterbildung historisch diskutiert bzw. umgesetzt? Wie sieht die Genese von Multiprofessionalität in der Erwachsenen- und Weiterbildung aus?
- Welche empirischen Ansätze zur Erforschung multiprofessioneller Kooperation liegen in der Erwachsenen- und Weiterbildung vor?
- Wo findet feld- und berufsübergreifende Kooperation in der Erwachsenen- und Weiterbildung und aus ihr heraus statt? Wer arbeitet dort mit wem wie und wozu zusammen, wo fehlt es auch an eigentlich notwendiger Zusammenarbeit?
- Welche – förderlichen wie hinderlichen – Faktoren prägen multiprofessionelles Arbeiten in der Erwachsenen- und Weiterbildung?
- Welchen strukturellen bzw. systemischen Bedingungen unterliegt die Umsetzung multiprofessioneller Teamarbeit in der Erwachsenen- und Weiterbildung?
- Welche Konsequenzen hat die Arbeit in multiprofessionellen Zusammenhängen ggf. auf Kompetenzanforderungen und deren Ausbildung?
- Was kann die Erwachsenen- und Weiterbildung von entsprechenden Ansätzen und Befunden aus anderen Disziplinen oder aus internationalen Debatten lernen? Und welche Wissensbestände kann sie in andere Disziplinen und Handlungsfelder hineintragen?
Zum weiteren Vorgehen
Interessensbekundungen mit einer kurzen Skizze der möglichen Beitragsidee und Angaben zu den Autor:innen (ca. 1.500 Zeichen) werden bis zum 31.05.2025 erbeten. Bitte senden Sie diese per E-Mail an Nicole Hoffmann: hoffmann@uni-koblenz.de
Je nach dem Echo, das wir erhalten, entscheiden wir im Juni 2025 über die weiteren Schritte; u.U. treffen wir uns im Rahmen einer Online-Videokonferenz, eventuell erfolgt noch ein spezifischerer „Call“, oder es gibt eine „informelle Arbeitsgruppe“ im Rahmen der Sektionstagung 2025 in Koblenz.
Wir informieren alle Interessierten dann entsprechend.
Das Erscheinen des Bands ist für 2026 - nach Möglichkeit in einem ‚Open Access‘-Format - geplant.
Literaturangaben
Alke, M. (2021). Stichwort Kooperieren. In: weiter bilden. DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung 28 (3), S. 12-13.
Alke, M./Jütte, W. (2018). Vernetzung und Kooperation in der Weiterbildung. In: Tippelt, R./von Hippel, A. (Hrsg.). Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung (6. überarb., akt. Aufl.). Springer VS, S. 605-621.
Altermann, A./Holmgaard, M. (2015). Der Akademisierungsprozess im Arbeitsfeld KiTa aus Sicht der Träger. Wiff Studien. Band 26.
Bernhard, C./Kraus, K./Schreiber-Barsch, S./Stang, R. (Hrsg.) (2015). Erwachsenenbildung und Raum: Theoretische Perspektiven – professionelles Handeln – Rahmungen des Lernens. Bertelsmann.
Berner, N. (2024). Lernen mit einer Alzheimerdemenz. (K)eine Bildungsfrage der Erwachsenenbildung?
In: Hessische Blätter für Volksbildung 74 (4), S. 20-29.
Bock-Famula, K./Klusemann, S./Sander, F./Schütz, J. (2024). Prekäre Professionalität und die Frage der
Professionalisierung der Ganztagsförderung im Grundschulbereich. In: Graßhoff, G./Sauerwein, M. (Hrsg.). Das Personal am Ganztag. Bildung, Betreuung und Erziehung in Zeiten des Fachkräftemangels – Herausforderungen für Kinder- und Jugendhilfe und Schule. Beltz Juventa, S. 131-144.
Cloos, P. (2017). Multiprofessionelle Teams in Kindertageseinrichtungen: Neue Herausforderungen für die Zusammenarbeit. In: von Balluseck, H. (Hrsg.). Professionalisierung der Frühpädagogik. Barbara Budrich, S. 145-157.
Dollhausen, K./Mickler, R. (2012). Kooperationsmanagement in der Weiterbildung. wbv.
Feld, T. (2011). Netzwerke und Organisationsentwicklung in der Weiterbildung. wbv.
Gieseke, W. (2008). Bedarfsorientierte Angebotsplanung in der Erwachsenenbildung. wbv.
Grgic, M./Friederich, T. (2023). Lizenz zur Multiprofessionalität in Zeiten des Fachkräftemangels? Professionstheoretische Einordnung „multiprofessioneller“ Teams in Kindertageseinrichtungen vor dem Hintergrund der aktuellen Fachkräftekataloge in den Bundesländern. In: Zeitschrift für Pädagogik (69) 2, S. 233-254.
Hoffmann N. (2024). „Verschickungskinder“ als aktuelles Thema der Erwachsenenbildung: Späte Aufarbeitung des Schicksals von Millionen von Kindern. In: forum erwachsenenbildung 57 (1), S. 40-42.
Jenner, A. (2018). Lernen von Mitarbeitenden und Organisationen als Wechselverhältnis. Eine Studie zu kooperativen Bildungsarrangements im Feld der Weiterbildung. Springer VS.
Jütte, W. (2002). Soziales Netzwerk Weiterbildung. Analyse lokaler Institutionenlandschaften. wbv.
Kielblock, St./Reinert, M./Gaiser, J. M. (2020). Die Entwicklung multiprofessioneller Kooperation an Ganztagsschulen aus der Perspektive von Expertinnen und Experten. Eine Qualitative Inhaltsanalyse. In: Journal for Educational Research Online/Journal für Bildungsforschung Online 12 (1), S. 47-66.
Kuhn, X./Hahnrath, E. K./Herbrechter, D. (2020). Gemeinsam statt einsam: Haltungen und Überzeugungen über das Lehren und Lernen kooperativ entwickeln. In: weiter bilden. DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung 27 (3), S. 38-40.
Kulmus, C. (i.E.). Lernorte im Alter. In: Hessische Blätter für Volksbildung (75) 2.
Nittel, D./Dellori, C. (2014). Die Soziale Welt der Erwachsenenbildner. Der Blick der komparativen erziehungswissenschaftlichen Berufsgruppenforschung auf die Grenzen der Professionalisierung in der Erwachsenenbildung. In: Schwarz, M.P./Ferchhoff, W./Vollbrecht, R. (Hrsg.): Professionalität: Wissen – Kontext. Julius Klinkhardt, S. 457-499.
Nittel, D./Schütz, J./Tippelt, R. (2014). Pädagogische Arbeit im System des lebenslangen Lernens. Ergebnisse komparativer Berufsgruppenforschung. Beltz.
Speck, K./Wulf C. (2018). Multiprofessionelle Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe. In: unsere jugend 70 (2), S. 50-54.
Tippelt, R. (2021). Scheitern ist möglich. Acht zentrale Bedingungen für erfolgreiche Bildungskooperationen. In: weiter bilden. DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung 28 (3), S. 19-21.
Weimann-Sandig, N. (Hrsg.) (2022). Multiprofessionelle Teamarbeit in Sozialen Dienstleistungsberufen. Interdisziplinäre Debatten zum Konzept der Multiprofessionalität – Chancen, Risiken, Herausforderungen. Springer/VS.
Bildnachweis: Ausschnitt aus einem Gemälde von Regina Weber, Augsburg