Digitalität – Erziehungswissenschaftliche Erkundungen einer kulturellen Transformation

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Nachbericht zur DGfE-Sektionstagung der Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Koblenz, 8.-10.03.2023

Wie konkretisieren sich algorithmisierte Gesellschaften in Bereichen der Bildung und Erziehung? In welcher Hinsicht ‚verrückt‘, ‚erschüttert‘ und ‚verwandelt‘ Künstliche Intelligenz die erziehungswissenschaftlichen Forschungs- und pädagogischen Handlungsfelder? Was bedeutet die sich ihren Weg bahnende kulturelle Transformation, die unter der Bezeichnung Digitalität firmiert, für Lebensverläufe, pädagogische Institutionen wie auch das disziplinäre Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft. Mit diesen und weiteren Fragen der Transformationen durch das Digitale haben sich an die 100 Teilnehmende beschäftigt, die vom 8. bis 10. März 2023 an der Universität Koblenz die Tagung der Sektion Allgemeine Erziehungswissenschaft besuchten. Organisiert wurde sie von Prof. Dr. Thorsten Fuchs, Inhaber der Professur für Allgemeine Erziehungswissenschaft in Koblenz und seit 2021 Sprecher der genannten Sektion innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft.

Die Tagung wurde eröffnet mit einem Grußwort durch die Vizepräsidentin Prof. Dr. Claudia Quaiser-Pohl, in dem sowohl bildungswissenschaftliche Nuancierungen des Digitalen als new normal angesprochen wurden als auch die zahlreichen forschungsbezogenen Aktivitäten der Universität – etwa zur Stärkung digitaler Kompetenzen in der Lehrkräftebildung. Nachdem sodann der Organisator thematisch in die Tagung einführte, standen in den ersten drei Vorträgen zentrale Transformationen in Begriff und Sache der Erziehungswissenschaft auf der Agenda; zum einen in Bezug auf die Erzeugung von neuen Sicht- und Unsichtbarkeiten aus Anlass des Digitalen in Bildungsräumen, zum anderen in Auseinandersetzung mit dem Begriff Erziehung. Dabei wurde u.a. die Frage aufgeworfen, ob bzw. wie sich „Charaktererziehung“ im Horizont der Datafizierung aktueller Wirklichkeiten denken lässt. Der erste Tag endete am frühen Abend mit einem Besuch des Bundesarchivs, bei dem die Teilnehmenden die Gelegenheit hatten, die Vorgehensweisen einer Digitalisierung der Akten von bundesdeutscher Bedeutung und Methoden der Archivierung reiner e-Akten kennenzulernen.

Der zweite Tag konzentrierte sich am Vormittag mit vier Vorträgen auf die Stellung des Menschen im Zeitalter der Digitalität. Die einem Buchtitel von Max Scheler entlehnte Formulierung lenkte unmissverständlich die Aufmerksamkeit auf die anthropologischen Dimensionen des verhandelten Themas. Sind es Computer und Maschinen, die den Prozess unaufhaltsam fortschreiten lassen und eine Kultur der Digitalität vorgeben, sodass sich allenfalls darauf reagieren lässt? Oder sind es Menschen, die den digitalen Wandel hervorbringen und die auch davon profizieren können, die also die Offerten nutzen müssen, die Softwaretechnologie zu einer konvivialen, d.h. lebensfreundlichen jenseits des drohenden „Überwachungskapitalismus“ zu machen? Fokussiert auf erziehungswissenschaftliche Themen wurde in diesem Spannungsfeld etwa diskutiert über die Unmündigkeit der smarten Nutzer*innen sowie über relationale Lernkontexte in Mensch-Maschine-Beziehungen. Am Nachmittag ging es um datafizierte Ordnungen des Wissens – und zwar um die des Unterrichtswissens, des Körperwissens und des erziehungswissenschaftlichen Wissens. Eine Podiumsdiskussion sowie die Mitgliederversammlung der Sektion beschlossen den Tag.

Am dritten Veranstaltungstag standen schließlich nochmals in fünf Vorträgen digitale Netzpraktiken im Fokus, die u.a. Gaming-Szenen, digitale Vergemeinschaftungen und Widerstand in virtuellen Spielen zum Thema machten. Über das Phänomen der Hamsterbilder, einem von Kindern und Jugendlichen im Frühjahr 2020 praktizierten Internettrend, wurde etwa aufgezeigt, wie die Konstruktion individueller Identitätsentwürfe und Praktiken kollektiver Vernetzung mit der Politizität einer Verhandlung von Wissen in Verbindung steht. Die Analyse von medialen Extensionen des Körpers in die Nexistenz stand wiederum im Zentrum einer Rekonstruktion von Bildungspotenzialen virtueller Raum-Zeit-Erfahrungen.

Mit den insgesamt 15 Vorträgen, die auf der Sektionstagung in Koblenz gehalten wurden, ist deutlich geworden, wie sehr die Erziehungswissenschaft in Anbetracht der skizzierten Entwicklungen vor der Herausforderung steht, Digitalität in den großen Umschriften, die sie für Lern- und Bildungsprozesse insgesamt erzeugt, ebenso zu beobachten wie kritisch zu reflektieren. Epistemologische und ethische Fragen, etwa wie sich der Raum des Sicht- und Sagbaren durch die Datafizierung aktueller Wirklichkeiten verschiebt und welche sozialen Ungleichheiten hierbei hervorgebracht werden, verlangen in erziehungswissenschaftlicher Perspektive genauso nach Diskussionen, wie es anthropologische tun, die u.a. der widersprüchlichen Gleichzeitigkeit von algorithmisierten Ordnungen auf der einen und einer Dynamisierung hybrider Subjektkulturen auf der anderen Seite nachspüren. Das erziehungswissenschaftliche Denken, so die Bilanz, die am Ende der Sektionstagung zu ziehen ist, dürfte gut daran tun, sich weiter in den Bemühungen um Theorieentwicklung mit digitaler Netzwerklogik, KI & Co. auseinanderzusetzen – nicht um Bildungsfragen angesichts der technischen Veränderungen ad acta zu legen, genausowenig aber pauschal zum Techlash ausholen, sondern Pädagogik auf die Problematisierung der individuellen und sozialen Gestaltung des Menschen hin zu reformulieren und weiterzudenken.

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